Positionspapier “Situation der Livekultur in Essen”
“Ist das Kunst, oder kann das weg?”
In der Zeit der pandemischen Auswirkungen auf die Kreativ- und Kulturwirtschaft wurde die
Diskussion über eine Systemrelevanz ins Zentrum gerückt – die klare Antwort war: Kultur und die
ausführenden Künstlerinnen bedürfen eines besonderen Schutzes und der Unterstützung. Kontaktbeschränkungen und Sicherheitsauflagen machten plötzlich Kunst und Publikumsteilhabe unmöglich. Heute – nach den großen Einschnitten – stellen wir fest, dass diese Zeit Wunden hinterlassen hat: das Publikum, das zuvor Live-Veranstaltungen wahrgenommen hat, kommt (noch) nicht zurück. Im Vergleich zur ersten Jahreshälfte in 2019 konnten in fast allen Essener Veranstaltungsbetrieben, trotz gelockerter oder gar aufgehobener Coronabedingungen, nur bis zu 70% der Zuschauerinnen wieder zu einem Besuch überzeugt werden.
Die Gründe hierzu scheinen vielfältig zu sein: Vorsicht und Befürchtungen gegenüber der
Risikolage einer Ansteckung mit Covid-19, das Nachholen vieler (auch privater) Veranstaltungen
und damit eine Überlastung der zur Verfügung stehenden Freizeit, und nicht zuletzt ein
Überangebot auch im kulturellen Sektor, das sich durch den Produktionsstau nachzuholender
Premieren und Veranstaltungstermine ergibt. Viele der Coronahilfen im Kultursektor haben
zusätzliche Projekte gefördert, die nun ebenfalls gezeigt werden wollen und zu diesem
Überangebot beitragen.
Die Dauer der pandemiebedingten Einschränkungen führte auch zu einer Neubewertung von
Livekultur und ihrer Alternativen von Seiten des Publikums. Der kommunikative Faden zwischen
den Kulturanbieter*innen und ihrem Publikum ist zum Teil gänzlich abgerissen und muss mühsam
wieder reaktiviert bzw. von Neuem aufgebaut werden. Auch wenn aktuell keine einfache Erklärung
ersichtlich ist, so kann man attestieren, dass für die Livekultur die Pandemie und ihre
Auswirkungen zum Teil noch im vollen Umfang (nach-)wirken.
Komplexe Ausgangslage
Wenn der Livekultur das Publikum wegbricht, stellt sich nicht nur eine simple Relevanz- und
Daseinsfrage, sondern dies gefährdet in hohem Maße die Existenz von Einrichtungen, des
zugehörigen Personals und der ausführenden Künstlerinnen. Konnten diese Risiken bisher mit Kurzarbeit und Überbrückungshilfen aufgefangen werden, so sind diese zunehmend weggebrochen oder werden mitten in der kritischen Phase des Neustartes auslaufen. Die Schere zwischen Einrichtungen und Künstlerinnen mit hohem Unterstützungsvolumen und denen, die
sich von einer Projektförderung in die nächste retten oder im Wesentlichen von den Einnahmen
abhängig sind, wird nicht nur immer größer, sondern wird ohne Eingriff und Gegenlenken zu einem
Veranstaltersterben, Arbeits- und Perspektivlosigkeit und damit zu einer nachhaltigen Reduktion
des kulturellen Angebotes führen. Zusätzlich bedingt diese Zukunftsunsicherheit nicht nur eine
laufende Personalabwanderung, sondern erschwert die notwendige Nachwuchsakkreditierung.
Anders jedoch wie bei der Gastronomie oder weiteren Freizeitangeboten wird sich der Markt für
Kulturveranstaltungen nicht zu einer Umsortierung oder Neuausrichtung konsolidieren können.
Kunst und Kultur gelten als besonders schützenswerte und förderungspflichtige Güter und werden
nun plötzlich kommerziellen Marktdynamiken überlassen, die existenzbedrohende Ausmaße
annehmen und in Folge den Bildungs- und Kulturauftrag nicht mehr absichern. Zeitgleich treiben
eine historisch hohe Inflationsrate und Ressourcenengpässe die Produktions- und Betriebskosten
in eine Höhe, in der das Produktionsrisiko zu hoch oder gänzlich unwirtschaftlich wird.
Bricht Livekultur weg, wird eine wesentliche gesellschaftliche Instanz wegbrechen, die relevante
Fragen unserer Zeit stellt, kommentiert oder bewertet und nicht nur maßgeblich zur kulturellen,
sondern auch zur gesellschaftlichen und sozialen Bildung beiträgt. Die Stadt Essen darf stolz
darauf sein, noch (!) eine derart lebendige und vielschichtige Livekultur zu haben – eine Vielfalt, die
aufrichtig, selbstbewusst und berechtigt in unserer diversen Stadtgesellschaft begründet ist; ihr
Verlust wird sich in einer schwächeren Identitätsbildung für die Stadt und einer sinkenden
Lebensqualität für alle Bürger*innen einschreiben. Kunst und Kultur haben den Strukturwandel des
ehemaligen Industriezentrums Metropole Ruhr maßgeblich befördert und stellen nicht erst seit dem
Jahr 2010, in dem Essen stellvertretend für das Ruhrgebiet Europäische Kulturhauptstadt war,
einen wirkungsmächtigen Motor für eben diesen Wandel einer zeitgemäßen und modernen
Stadtgesellschaft dar.
Entwicklungsprognose
Die Dauer der beschriebenen Probleme und deren Auswirkungen ist schwierig einzuschätzen und
abhängig von den aktuell nicht im Detail erforschten Ursachen des Besucherschwundes. Sollte
das gestiegene Sicherheitsbedürfnis der Grund sein, könnte sich bis zum Ende des Jahres 2022
eine Entspannung, parallel zu rückläufigen Pandemieauswirkungen ergeben. Kommt es allerdings
zur Wiederholung von härteren Sicherheitsmaßnahmen wie Zugangsbeschränkungen und auf
Abständen basierenden Bestuhlungsplänen oder gar wieder Vorstellungsabsagen durch
Veranstaltungsverbote, werden die negativen Auswirkungen durch diesen Vertrauensverlust und
das daraus resultierende zurückhaltende Kaufverhalten noch auf Jahre im Kultursektor zu spüren
sein. Eine optimistische Prognose wird auch aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten in
Kombination mit der hohen Inflationsrate eingeschränkt. Hier tragen Veranstaltungen, die auf ein
breites und vielschichtiges Publikum setzen höhere Risiken, im Vergleich zu hochpreisigen
Veranstaltungen, die bereits vor der Pandemie ein eher abgesichertes und besser situiertes
Publikum angezogen haben. Beruhen die Gründe des Besucherrückgangs auf einem veränderten
Konsumentenverhalten, welches die kulturelle Grundversorgung auf mediale Formate umsortiert
hat, die im häuslichen Umfeld konsumiert werden, kann am effektivsten durch eine verstärkte
Kommunikation gegengesteuert werden. Es gilt den Besucher*innen aufzuzeigen, wie schön und
eben nicht durch mediale Nutzung ersetzbar ein live und vor allem gemeinschaftlich erlebter
künstlerischer Moment sein kann.
Szenario wenn wir nichts tun:
Angesichts der bislang anzunehmenden Umsatzrückgänge von bis zu 70% werden lediglich die
Häuser und kulturellen Institutionen mit einer starken finanziellen Förderung 2023 noch ihre
Pforten öffnen. Wie lange die betreffenden Kulturschaffenden angesichts der Auswirkungen auf die
Besucherzahlen jedoch den Einsatz und Handlungs- und Unterstützungsaufwand privater oder
öffentlicher Förderer rechtfertigen können, ist fraglich.
Szenario wenn wir aktiv werden:
Eine gemeinsame Aktion der Essener Kreativ- und Kulturwirtschaft führt zur Stärkung der aktiven
Szene, macht die breite Öffentlichkeit auf die problematische Lage aufmerksam und erhöht die
Aufmerksamkeit, Angebote anzunehmen. Eine groß angelegte Kommunikationskampagne ist das
derzeit wohl effektivste Hilfsmittel im Rahmen der kurz- bis mittelfristigen Möglichkeiten. Über den
gewünschten direkten Werbeeffekt hinaus stärkt das Einbinden der Öffentlichkeit und das
Thematisieren der Problematik die Verhandlungsposition, wenn es zeitnah um die aktuell
notwendige Forderung nach einem Rettungsschirm für die Veranstaltungsbranche geht. Nachdem
die Veranstaltungswirtschaft in der Vergangenheit alle regulativen Maßnahmen zur Eindämmung
der Corona-Pandemie geduldig mitgetragen und aktiv gefördert hat, fehlt es nun an einem
deutlichen und sichtbaren Rückhalt seitens der politischen Entscheidungsträgerinnen. Wir benötigen das offene Ohr der Politik und die Flexibilität bei der Unterstützung für die vielschichtigen Herausforderungen und Milderung der akuten Symptome. Was kann die Livekultur leisten? Aktuell erarbeitet eine Arbeitsgruppe aus den Reihen Essener Kultureinrichtungen ein gemeinsames Konzept für eine breit angelegte Kommunikationskampagne (Arbeitstitel: “back2live”), die möglichst viele Vertreterinnen der lokalen Kreativ- und Kulturwirtschaft verbindet.
Im Zentrum sollen gemeinsam gestaltete Aktionswochen bei den sich beteiligenden Akteur*innen
stehen, mit denen medial wirksam auf das vielfältige und spannende Live-Angebot der Essener
Kulturszene aufmerksam gemacht werden soll. Eingebunden werden neben Theatern auch weitere
freie Einrichtungen der Darstellenden und Bildenden Künste, Kinos, Konzertveranstalter, Clubs
und Kulturtreffs. Den Start soll eine konzertierte Auftaktveranstaltung in der Essener Lichtburg
bilden, der weitere dezentrale Veranstaltungen, Diskussionen und künstlerische Interventionen im
öffentlichen Raum folgen. Zu diesen sollen lokale Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses
eingebunden werden, die auch der Medienkampagne ihre Stimme und Unterstützung leihen
(Testimonials). Eine aktive und umfangreiche Einbindung lokaler Medien soll zusätzlich die
Reichweite erhöhen.
Wie kann die Livekultur in Essen unterstützt werden?
Eine erste Kalkulation der oben genannten Maßnahmen beläuft sich auf 25.000 Euro, die aufgrund
der aktuellen Situation in den Einrichtungen nur durch externe finanzielle Hilfe erbracht werden
kann. Neben finanzieller Mittel ist auch jede weitere Art der Unterstützung hilfreich: von direkter
Finanzhilfe für einzelne prekäre Situationen, Mund-zu-Mund-Propaganda,
Kommunikationsunterstützung zum Erreichen einer breiten Öffentlichkeit bis hin zum Rückhalt
durch politische Entscheidungsträger*innen mit dem Ziel, strukturelle Hilfsmaßnahmen zumindest
zu erörtern.
Im Folgenden wollen wir einige Ideen hierfür notieren:
• Befreiung (soweit in städtischer Hand) von bzw. Bezuschussung bei Mieten und
Nebenkosten von Kultur genutzter Räumlichkeiten;
• Bereitstellung von Marketing-Kompetenzen und Kapazitäten, z.B. durch Anbindung an
Aktivitäten bei der EMG, Ermöglichung eines professionellen, gemeinsamen Auftretens
aller Häuser (Monatsübersicht-Flyer und DIN A1-Plakate auf städtischen Kultur-
Litfaßsäulen mit allen Veranstaltungen, gemeinsamer Internetauftritt);
• Dauerhafte finanzielle Unterstützung (jährlicher Projekt-Topf und Bereitstellung von
Ressourcen) bei Aktionen wie z.B. „9€-Kulturticket“ oder ähnlichen Aktionen, bei denen sich
die Szene gemeinsam präsentiert („Nacht der Live-Kultur“ nach Beispiel „Nacht der
Museen“ in Düsseldorf und ähnlichen. Hier spielen alle Theater zu freiem Eintritt, der Eintritt
wird aus städtischen Geldern bestritten.);
• Unterstützung bei den Gagen, Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt möglich?
• Finanzielle Aufstockung bei niedrigen Auslastungszahlen zur Kompensation der laufenden
Kosten;
• Bereitstellen von städtischen Ressourcen unterschiedlichster Art, bis hin zu dauerhafter
Einbindung der EVAG (Anfahrt zum Theater umsonst, Nutzung der Werbeflächen in Bus
und Bahn, etc.);
• Kontaktaufbau seitens der Politik zu potentiellen Stiftungen, Unternehmen und weiteren
Stakeholdern, um diese „von oben“ zu tatkräftigen Unterstützungen zu motivieren →
“Kultur-Round-Table”;
• Umwidmung noch zur Verfügung stehender Projektgelder zur Unterstützung der lokalen
Szene und der finanziellen Unterstützung und Abmilderung bei akuten Notsituationen;
• Zudem sollte die Politik kulturpolitisch und stellvertretend für die Szene auf Landes- und
Bundesebene (z.B. im Deutschen Städtetag) Einfluss üben und um Unterstützung werben.